Nakos ist der einzige Nachbar, der noch nie diese Treppe hochgestiegen ist, die zu Billys Tatoo-Studio führt. Aber der Tag wird kommen. „Wenn die Dinge besser laufen“, sagt Nakos. Für ihn gerät die Welt immer mehr aus den Fugen – seine Welt: die Nachbarschaft, in der er aufwuchs, der kleine Platz, das Mehrfamilienhaus. Nakos macht eine Strichliste und stellt fest: Mehr Migranten als Griechen. Tarek und seine neunjährige Tochter Maya haben es aus Syrien bis hierher geschafft und müssen weiter. Nach Berlin. Welcher Weg zwischen Himmel und Erde ist der sicherste? Die Zeit drängt. Doch Tarek weiß inzwischen: „Grenzen, das heißt: Business“. Nakos, verdrossen, will einen Job. Er lässt sich was einfallen und teilt sich Billy mit. Bei Billy, dem Tatoo-Künstler, sind Fotos von Johnny Cash, David Bowie und Abbildungen von viel geschmückter Haut zu sehen. Blumen, Tiere, Tote, Kämpfer, Worte … Billy gibt Menschen Bilder ihrer Identität. „Dass ich mich erinnere, was bleibt und was von Wert ist.“ Tarek und Maya brauchen schnellstens Pässe. Und Nakos? Der hat einen finsteren Plan. Plötzlich interessiert er sich fürs Brotbacken.
Yannis Sakaridis’ dynamisch geschnittener Film spielt hauptsächlich in einem Wohnviertel des sich verändernden, wintertrockenen Athen, 2016. Immerzu werden hier Entscheidungen getroffen. Für oder gegen. Wie heißt es: „Die weg wollen, können nicht, und die können, wollen nicht.“ Alle im Transit, alle in Bedrängnis. Heimat ist ein vager Ort. Nur Tatoos sind beständig. „Refuse to sink“, das wird zu einer Haltung in unsicheren Verhältnissen, die inzwischen nicht nur Griechenland eingeholt haben. Billy, der Künstler, bekennt sich zur Lebensliebe, überschreitet schließlich die Grenze zwischen Mensch und Mensch und löst diese durch einen riskanten Akt in sich auf. Nur so behalten alle Bilder ihren Wert. Und für einen Moment hat sich der Regisseur selbst Billy ausgeliefert. Während nicht nur Nakos die Atmosphäre vergiftet. Jeder steht auf seine Weise in Beziehung zu jedem, und fast alle Wege scheinen sich zu durchdringen, wie nach ungeschriebenen Gesetzen, die auch für Berlin gelten werden.
Yannis Sakaridis’ „Amerika Square“ ist ein spannungsvoller, auch musikalisch durchkomponierter Film von bemerkenswerter Leichtigkeit, der aktueller und griechisch-internationaler wohl nicht sein könnte.
Yannis Sakaridis
ist 1968 in Skydra (Nordgriechenland) geboren. Mit neunzehn zog er nach London und studierte Fotografie und Kunstgeschichte am Institut für Film an der Universität von Westminster. Er war Mitglied der legendären Kooperation Londoner Filmemacher (London Film Makers Co-Op) und begann dort, seine ersten fiktionalen Kurzfilme zu drehen, wie zum Beispiel „BUSKERS“ (1995), „SQUADDING IN HACKNEY“ (1995), „DOGKILLERS“ (1996), „MAUSOLEUM“ (2004), sowie experimentelle Kurzfilme, so z.B. „Paris“ (1993) und „DECAY“ (1996).
Außerdem arbeitete er als Cutter für sieben Spielfilm-Produktionen in Großbritannien und Griechenland, u.a. bei „SCREAMIN‘ JAY HAWKINS: I PUT A SMELL ON ME“ (Regie: Nicolas Triantafyllidis, 2001), „O VASSILIDIS“ (Regie: Nikos Grammatikos, 2002), „A WOMAN IN WINTER“ (Regie: Richard Jobson, 2006). Desweiteren war Yannis Sakaridis für den Schnitt zahlreicher Filmtrailer von Warner Bros. verantwortlich; dazu gehörten u.a. „MIDNIGHT IN THE GARDEN OF GOOD & EVIL“ (Regie: Clint Eastwoood, 1997), „THE GENERAL“ (Regie: John Boorman, 1998), „EYES WIDE SHUT“ (Regie: Stanley Kubrick, 1999) wie auch Dokumentationen für das britische Fernsehen, z.B. „VELVET GOLDMINE“ für Channel 4, „CLASH OF THE TITANS: RANGERS/CELTICS“ für BBC 2, „CARNIVAL FACES“ für National Geographic.
Nach mehr als achtzehn Jahren Arbeit in London drehte Yannis Sakaridis in Griechenland „TRUTH“, seinen ersten Kurzfilm. „TRUTH“ gewann den Ehrenpreis der Griechischen Filmakademie, den Großen Preis der Jury und den Preis „Bestes Musikvideo“ auf dem internationalen Filmfest in Drama. Der Film ist außerdem in der Kurzfilm-Auswahl des Raindance Filmfestes.
Zusammen mit der Filmkritikerin und Produzentin Venia Vergou gründete Yannis Sakaridis 2012 die gemeinnützige Filmproduktion ATHENS FILMMAKER CO-OPERATIVE. „WILD DUCK“, Yannis Sakaridis’ erster Spielfilm, hatte beim Filmfest von Toronto Weltpremiere.